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Bund für vereinfachte rechtschreibung (BVR)

presseartikel1892-01-06 → Die Orthographiefrage
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Der Bund (), , 43. jg., nr. 6, s. 1, fraktur (1167 wörter)

Die Orthographiefrage

Die Schweiz iſt augenblicklich ein wahres Kampflager in Sachen der Orthographie. Insbesondere wiſſen sich Schrift­ſteller, Journali­ſten, Lehrer oft kaum zu helfen in der allgemeinen Verwirrung. Neben vielen willkürlichen, alten sogenannten Recht­ſchreibungen haben wir zwei Sy­ſteme: die neue ſchweizeriſche Orthographie und die preußiſche, die sich an Dudens Wörterbuch anſchließt. Die erſtere wird vielfach in den Zeitungen angewendet, so auch in unserm Blatt, die letztere hauptsächlich im Verlag. Die Schulmänner der Schweiz glaubten seinerzeit, es könnte auf einer internationalen Konferenz aller deutſchsprechenden Staaten eine Einigung über ein Syſtem der Orthographie erzielt werden und eine Versammlung, die am 15. November 1885 in Olten abgehalten wurde und von zehn Kantonen und drei Vereinen beſchickt war, beſchloß, den Bundesrat zu ersuchen, eine solche Konferenz anzuſtreben. Der Bundesrat erhielt auf vertrauliche Anfragen hin abſchlägigen Beſcheid. Als die Angelegenheit in der Schweiz neuerdings zur Sprache kam, wandte sich der Delegirte des ſchweizeriſchen Typographenbundes, Hr. Buchdrucker Büchler in Bern, wieder an den Bundesrat und erhielt unter dem 4. Dezember 1891 von der Bundeskanzlei folgende Antwort:

„Der ſchweizeriſche Bundesrat hat nicht ermangelt, die ſchweizeriſche Gesandſchaft in Berlin zu beauftragen, vertrauliche Erkundigungen darüber einzuziehen, ob jetzt beſſere Ausſichten für eine internationale Regelung der Frage vorhanden seien. Die Gesandtſchaft hat hierauf geantwortet: Der preußiſche Kultusminiſter habe allerdings die Abſicht, diejenige Recht­ſchreibung, welche ſ. Z. in den preußiſchen Schulen gelehrt werde, auch im amtlichen Verkehr der preußiſchen Behörden zur Anwendung zu bringen. Diesbezügliche Verfügungen seien aber noch nicht erlaſſen worden. Auch gehe man im preußiſchen Kultusminiſterium keineswegs mit dem Plane um, irgendwelche Abmachungen mit den übrigen deutſchen Bundesſtaaten in Bezug auf die einheitliche Recht­ſchreibung zu treffen. Es beſtünden in Deutſchland sechs Regelbücher, nach welchen die neue Orthographie gelehrt werde, dieſe Regelbücher wiesen aber so wenige und zudem unwesentliche Abweichungen von einander auf, daß man sich in den dortigen maßgebenden Kreisen sage, es lohne ſich nicht der Mühe, der paar Verſchiedenheiten wegen die ganze Streitfrage wieder aufzurühren. Würde die Schweiz — ſo sei der Gesandtſchaft bemerkt worden — eines dieſer sechs Regelbücher adoptiren, so würde sie ſich dadurch der neuen Recht­ſchreibung, wie sie in Deutſchland in den Schulen gelehrt werde, anſchließen. Dagegen hätten etwaige offizielle Schritte von Seite der Schweiz zu dem Zwecke, die Reichsregierung zu bewegen, zur Anbahnung einer einheitlichen deutſchen Orthographie die Hand zu bieten, nicht die geringſte Ausſicht auf Erfolg. Die Stimmung der Reichsregierung habe sich diesbezüglich seit dem Jahre 1886 in keiner Weise geändert.

Was nun die Einführung eines der erwähnten sechs Regelbücher betrifft, so entbehrt die ſchweizeriſche Bundesbehörde bekanntlich jeglicher Kompetenz, den Kantonen ein derartiges Vorgehen in einer für sie verbindlichen Weise nahe zu legen. Eine Verwendung des Bundesrates für allgemeine Adoption eines der angedeuteten Regelbücher, oder eines andern Lehrmittels für die Recht­ſchreibung in den deutſch sprechenden Kantonen hätte nur dann Ausſicht auf Erfolg, wenn dahin zielende Gesuche von den beteiligten Kantonen selbſt an den Bund gerichtet würden, was indeſſen bis jetzt nicht geſchehen iſt.“

Geſtützt auf dieſe Antwort tritt Herr Büchler mit der Initiative vor die Oeffentlichkeit:

„Die Kantonsregierungen ersuchen den hohen Bundesrat, eine Konferenz der deutſch sprechenden Kantone zu veranſtalten, welche die geeigneten Schritte beraten wird, um für die deutſche Schweiz zu einer einheitlichen Orthographie zu gelangen“. Herr Büchler begründet sein Vorgehen mit einigen zutreffenden Ausführungen: „Es kommt ja vielfach vor, namentlich an höhern Schulen, daß an ein und derſelben Schule nach 3 verſchiedenen Orthographien gelehrt wird. Im Ausland, das sonſt mit Recht eine ſehr hohe Meinung von dem ſchweizeriſchen Schulwesen hat, muß dieſer Uebelſtand in den ſchweizeriſchen Schulen und die Uneinigkeit in dieſer Frage überhaupt sehr auffallend erſcheinen. Alle graphiſchen Gewerbe werden bedeutend geſchädigt, indem die Verſchiedenheit der im Gebrauche befindlichen Orthographien eine Maſſe zeitraubender Korrekturen im Gefolge hat. Der Wille des Autors zeigt ſich sehr oft erſt in den Korrekturbogen. Diese Korrekturen werden aber höchſt selten entſchädigt. Der Unmut bei dieſem korrigiren treibt daher bei den betreffenden manchmal recht arge Blüten. Im ferneren wird durch die Verſchiedenheit der Orthographie das Absatzgebiet, besonders für Schulbücher und sonſtige offizielle Lehrmittel, auf eine minime Ausdehnung beſchränkt. Es können daher nur kleinere Auflagen gedruckt werden. Der Buchhandel leidet ebenfalls unter der Unsicherheit in der Orthographiefrage, indem, wie oben erwähnt, das Absatzgebiet für die offiziellen Lehrmittel sich nur auf unser kleines Land beſchränken kann, während umgekehrt der deutſche Buchhandel die Schweiz mit seinen literariſchen Erzeugniſſen förmlich überſchwemmt und gerade die bei uns in den höheren Schulen verwendeten Lehrbücher im Auslande in dort üblicher Orthographie gedruckt werden.“

Der Regierungsrat von Baselſtadt hat bereits den erſten Schritt für die angeregte Konferenz von Abgeordneten der deut­ſchweizeriſchen Kantone getan. Diese Konferenz dürfte also zu ſtande kommen. Ein Korrespondent der „Allgemeinen Schwei­zer­ztg.“ erinnert daran, daß an der vorerwähnten Aarauer Versammlung die eifrigſten Vertreter der neuſchweizeriſchen Orthographie erklärten, wenn keine internationale Einigung erzielt werde, so sei der Zeitpunkt gekommen, zur preußiſch-deutſchen Orthographie überzugehen und er fügt bei, im Intereſſe der Schule habe das jetzt zu geſchehen: „Hier handelt es ſich nicht darum zu erwägen, wo man ein „th“ zu setzen habe, wo nicht, nicht darum, ob man es nicht mit „probieren“ Probiren und ob man ein Fremdwort wie „Akzent“ nicht auch „Accent“ ſchreiben könne. Es handelt ſich auch nicht darum, eine richtige Orthographie aufzuſtellen; denn keine deutſche Orthographie iſt an sich richtig, jede iſt konventionell. Die Frage iſt nur: soll die deutſche Schweiz, die in ihrer Lektüre großenteils auf Deutſchland angewiesen iſt, die zahlreiche in Deutſchland gedruckte Lehrbücher in der Schule zu verwenden hat, die in einem ununterbrochenen geiſtigen und kommerziellen Verkehr mit Deutſchland ſteht, um einiger ſchulmeiſterlicher Schrullen willen, deren Begründung überdies auf sehr ſchwachen Füßen ſteht, eine abweichende Orthographie ſchaffen?

Im Atlas pflegt die Schweiz in größerem Maßſtabe dargeſtellt zu sein als Deutſchland. Man nehme eine Karte zur Hand, auf der beide nach gleichem Maßſtab gezeichnet sind und trenne die welſche Schweiz ab, so haben wir ein Bild vor Augen, das uns gleichsam graphiſch darſtellt, welches Gewicht der Schweiz bei einer Frage zukommt, die alle deutſchen Stämme, alle deutſch Redenden und Schreibenden angeht.“

Die in Ausſicht ſtehende interkantonale Konferenz wird in der Tat nur über die Frage Beſchluß faſſen können, ob die preußiſch-deutſche Orthographie in der Schweiz einzuführen sei. Niemand wird daran denken, die alten willkürlichen Schreibweisen beizubehalten. Was aber die neuſchweizeriſche Orthographie anbetrifft, so würde es ebenso viele Mühe koſten, ihr in allen Kantonen Eingang zu verſchaffen, als wenn man es mit der preußiſchen versuchte, und dann würde unser kleines Sprachgebiet erſt noch vereinzelt daſtehen. Die preußiſche Orthographie bildet aber nicht nur für Preußen, sondern auch ſchon für eine Anzahl kleinerer deutſcher Staaten Regel und wird sich wohl das ganze Reich erobern. Zum Glück ſind die Abweichungen derselben von der neuſchweizeriſchen nicht sehr bedeutend, so daß wir hier ſchon unſern Tſchako gegen die Pickelhaube austauſchen dürfen. Was unser Syſtem vor dem preußiſchen auszeichnet, iſt, daß es weniger Ausnahmen von allgemeinen Regeln aufweiſt. Die preußiſche Orthographie iſt in Dudens „Orthographiſchem Wörterbuch“ deutlich erläutert; die neuſchweizeriſche (mit ſteter Berücksichtigung der Abweichungen der preußiſch-deutſchen Orthographie) findet ſich im „Schweizeriſchen Recht­ſchreibebüchlein“, das auf Veranlaſſung des Vereins ſchweizeriſcher Buchdruckereibesitzer herausgegeben wurde. Die Frage wird vorausſichtlich eine lebhafte Diskuſſion veranlaſſen, da jedermann dabei beteiligt iſt.